Herm Tiggens unglückliche Liebe

Nach einer wahren Begebenheit aus dem Paderborner Lande – von Heinz Küting – veröffentlicht im WESTFALEN-BLATT

 

In der Egge schrieb man das Jahr 1591. Greitken, die Tochter eines kleinen Kötters, saß am Spinnrade. Ein resolutes, derbes Mädchen, blond wie der Flachs, der auf seinem Schoße lag und als fester Faden in die kreisende Spule sprang. Seit die Mutter vor zwei Jahren beim Heuwenden vom Blitze erschlagen wurde, führte Greitken den Haushalt und betreute das Vieh. Die Burschen des Dorfes mochten sie nicht. Sie war ihnen zu herrisch, zu anspruchsvoll. Aber das verdroß sie nicht. Ihr Herz hing an Herm Tiggens, dem stattlichen und starken Köhlerburschen, wenn ihr kühl rechnender Verstand auch ihn noch ablehnte, weil er ein Habenichts war, weil er neben seiner Rechtschaffenheit, Treue und Stärke nichts an irdischem Gute zu bieten hatte. Aber seiner Liebe war sie gewiß.

Als just die Angelusglocke erklang, trat er zu ihr in die Stube, setzte sich auf die Ofenbank, aber nicht so frei und froh wie sonst. Irgendetwas bedrückte ihn, machte ihn unsicher und scheu. Heute Abend wollte er endlich Gewissheit haben, ob er mit ihr eine Zukunft aufbauen könne. „Gern, Herm, wenn du nicht so ein armer Teufel wärest!“ Das gab sie lächelnd zur Antwort. Er aber ging schweigend zurück in den Wald, droben in die Buchenschläge der Egge, wo die grauen Meiler rauchten. Draußen wirbelten die Flocken, leicht und weich. Die Erde unter seinen Füßen war bereits in Frost erstarrt. Es war nach Weihnachten, und das Jahr lief mit flinken Füßen dem Ende zu.

Die drei anderen Köhler, deren Gehilfe er war, saßen schon um den dürftigen Brettertisch in der Holzhütte und schauten in den offenen kleinen Kamin, in dem kurze Buchenscheite prasselten. Während die Alten sich bald auf die weiche Stroh-schütte streckten, rückte Herm näher an die wärmende Glut. Er fror innen und außen. Es traf sich gut, dass er in dieser Nacht Meilerwache hatte. Schlaf hätte er doch nicht gefunden, denn Herz und Hirn waren zutiefst aufgewühlt, das eine von Sehnsucht, das andere von dummen Gedanken. „Gern, wenn du nicht so ein armer Teufel wärest!“

Die Köhler am Eggehang verstanden Herm bald nicht mehr. Er schaffte für drei, aß wie ein Kind und schwieg wie ein Mönch. Sie schüttelten ihre Köpfe und ließen ihn schließlich in Ruhe. Und dann war er spurlos verschwunden. Zwei Tage darauf lag am verschneiten Landdrostenwege im Bodentale in der Nähe des Klusenberges, weich in den Neuschnee gebettet, eine männliche Leiche. Drei britische Kuriere des Paderborner Bischofs, die zum Landdrosten auf Dringenberg unterwegs waren, fanden sie. Mit zertrümmertem Schädel. Aber sie fanden auch Fußspuren, die in das wegsäumende Dickicht zeigten. Einer von ihnen hielt die Pferde, die beiden anderen folgten der Spur. Schon nach wenigen hundert Schritten stießen sie auf einen Mann, der verstört unter einem Baume hockte und gierig auf ein Säckchen stierte, aus dem Silbergerät blinkte. Ohne Wehr ließ er sich abführen. Als er sein Opfer am Wege sah, brüllte er auf wie ein waidwundes Tier. Und es dauerte lange, bis er Antwort gab.

„Hast du ihn erschlagen?“ „Ja!“ „Warum?“ „Weil ich arm war!“ „Kennst du ihn?“ „Ein Bote der Nonnen in Gehrden, für die er Silber aus Paderborn geholt hat“. „Und wer bist du?“ „Herm Tiggens. Der Köhlerbursche!“

Schon nach wenigen Tagen wussten die Menschen weit und breit in der Egge, dass am Landdrostenweg ein Mann erschlagen war und Herm Tiggen, sein Mörder, im dunklen Verließ der Burg lag und auf sein Urteil wartete. Greitken war bleich geworden ob dieser Nachricht. Sie ahnte und fühlte, warum Herm gemordet hatte.

Kurz darauf hielt der Landdrost zu Dringenberg hohes Gericht auf der Schonlau. Der Rentschreiber saß ihm zur Seite. Im Halbkreis standen die Schöffen, ehrenwerte Bürger aus Gehrden, Willebadessen und Altenheerse. Dann trat der Mörder vor, von Fronboten geführt. Weil er auf frischer Tat ertappt und geständig war, währte die Urteilsfindung nicht lange. „Tod durch den Strang!“

Boten jagten nach dem edlen Meyer von Schwaney, der den Galgen auf dem Klusenberge bei Neuenheerse binnen drei Tagen zu richten hatte, zu dem Suffelmüller, der von den vier Müllern im Ösetal just an der Reihe war, den Delinquenten vierspännig zur Richtstätte zu fahren, nach Willebadessen, Gehrden und Siddessen, um Bürgermeister und Mannen aufzubieten, die bei der Exekution da sein mussten.

Am Morgen des dritten Tages wimmerte von Dringenberg die Armsünderglocke ins Land. Kalt und klar war der Tag, und bleich kroch die Wintersonne hinter den Weserbergen herauf. Vor der Burg hielt der Wagen des Suffelmüllers. Trotz der eisigen Kälte hatte sich viel Volk unter den kahlen, rauhreifbehangenen Bäumen des weiten Vorplatzes eingefunden, schweigend wartend, bis Herm Tiggen gefesselt über die Brücke schritt. Fronboten folgten ihm. Hinter diesen sah man den Burgkaplan, den Rentmeister und eine stattliche Anzahl Mannen.

Den alten Hohlweg durch die „Fiddelen“ gingen die Pferde im Schritt. An der Böschung standen die Menschen, die sogar aus Driburg und Brakel gekommen waren. Bauern im dünnen leinenen Kittel und Frauen mit dicken wollenen Tüchern um den Kopf und Schultern. Der hart ansteigende Weg zur Höhe des Klusenberges war an mehreren Stellen arg verweht. Die Pferde schnauften, und die Räder gruben tiefe Spuren in den verharschten Schnee. Man hatte Herm Tiggen einen alten Mantel umgeworfen, aber dennoch zitterte er vor Kälte.

Hinter einer Wegkrümmung wurde die Kuppe des Berges sichtbar. Aber wie merkwürdig! Noch fehlte der Galgen. Hatte der Meyer aus Schwaney mit seinen Knechten die Order des Drosten vergessen? Beileibe nicht. Ordnungsgemäß war der Galgen gerichtet gewesen, aber morgens hatte er wieder am Grunde gelegen, glatt abgesägt. Die benutzte Säge glitzerte blank in der Morgensonne. Auch der Hanfstrang war verschwunden. „Sollte der Teufel hier die Hand im Spiel gehabt haben?“ dachte der fürstbischöfliche Meyer. Aber noch während er seinen Gedanken nachhing kam einer seiner Knechte mit der Kunde, dass am Ast einer dicken Schirmtanne, nur ein Steinwurf von hier, ein junges Weibsbild hänge. Man knüpfte es los und trug es neben das Galgengerüst. Kurz darauf hielt auch der Wagen mit dem Mörder an der Richtstätte. Die Frontboten führten Herm dicht an die Stelle, wo Leiche und Galgen lagen. Einen Herzschlag lang stutzte Herm, warf sich dann über die Tote und stöhnte nur ein Wort: Greitken! Kalter Schauer erfasste die Menge ringsum. Mancher kannte die Tote. Aber in welcher Beziehung sie zu Herm gestanden, wusste wohl keiner. Auch der Rentmeister konnte es trotz wiederholter Fragen von ihm nicht erfahren. Er schwieg.

Fieberhaft arbeiteten die Mannen aus Willebadessenn, Gehrden und Siddessen daran, den Galgen neu herzurichten. In kurzer Frist war es geschafft. Trotz der in Frost erstarrten Erde. Schon glitten aller Augen über die weißen Wipfel des Waldes hinüber zur Burg Dringenberg. Welche Fahne würde man dort hissen? Rot oder weiß? Weiß bedeutet Gnade und Freiheit. Rot aber Sühne und Tod.

Vom Turm der Burg weht Rot! Unruhe befällt die Menge. Der Burgkaplan tritt noch einmal zu Herm, dann der Henker. Mancher wendet sich ab, verhüllt die Augen oder schreit verhalten auf. Dann stürzt die Leiter. Schnell leert sich der Richtplatz, der Ort des Grauens. In das Schweigen dort oben lärmen wieder die schwarzen Krähen, die Galgenvögel.

Und erst nach zwei Tagen wühlte man ein Loch in die harte Erde, dicht am Galgen, und bettete beide hinein. Im Tode vereint. Unter dem Galgen getraut! Greitken, die das Gewissen trieb und Herm, der vor kurzem noch das Glück suchte, aber den Galgen fand.